Ausstellungen
"Der Klang auf der Fläche" (2012)
2-fache Jubiläumsausstellung anlässlich des 40-jährigen
Bestehens der wfk
Eröffnungsrede im Foyer des Rathauses Wiesbaden
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich darf Sie ganz herzlich zu dieser 2. Jubiläumsausstellung der Wiesbadener Freien Kunstschule begrüßen! Die erste Ausstellung wurde vor etwa einer Woche in unseren Ateliers in der Friedrichstraße 7 eröffnet. Sie geht noch bis Ende Juni und ist vergleichbar sehenswert. Diese hier wird nur 2 Wochen laufen.
Unter dem Titel „Klang auf der Fläche“ fassen unsere beiden Ausstellungen auf komprimierte Weise das zusammen, was der wfk seit jeher wichtig war: Nämlich die Verbindung der bildenden Kunst zur Musik. Was es damit auf sich hat, gerne im Anschluss etwas genauer. Zunächst jedoch freue ich mich, unseren Oberbürgermeister Dr. Helmut Müller ankündigen zu dürfen, der dankenswerterweise einige Worte anlässlich unseres Jubiläums verlieren möchte. Danke vorab an Sie Herr Dr. Müller, dass wir in diesen schönen Räumen Ihr Gast sein dürfen.
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Oberbürgermeister Dr. Müller,
schon Paul Klee forderte vom bildenden Künstler, über den Tellerrand seines Metiers zu blicken, um sich mit den anderen Künsten, vor allem mit der Musik auseinanderzusetzen, um die Unterschiede, aber vor allem auch die Parallelen zu entdecken, die zwischen allen künstlerischen Disziplinen bestehen. Diese Parallelen, die bislang meist nur intuitiv erfasst wurden, hat die Wiesbadener Freie Kunstschule über eine längere Forschungszeit hinweg in eine sprachliche Form gießen können. Diese wurde u.a. 1996 im Bauhaus Dessau vor einem riesigen Fachpublikum vorgestellt. Musikalische und musiknahe Begriffe werden nun auf einmal für die bildende Kunst herangezogen. Es geht aber natürlich nicht darum, Musik zu malen, sondern, und hier wird es etwas abstrakt: musikalische Prinzipien in die bildende Kunst zu übersetzen und für diese nutzbar zu machen. Jedem ist einsichtig, dass sich die Komposition von Musik nach gewissen Regeln der Wahrnehmung, der Informationsverarbeitung unseres Gehirns richtet bzw. dass sie nur durch die kreative Anwendung dieser Regeln und Gesetzmäßigkeiten im wahrsten Sinne erklingen kann. Dabei handelt es sich ganz einfach um Gesetze, wie unsere Wahrnehmung geregelt Informationen aufnehmen kann, wann unsere Wahrnehmung über-, wann sie unterfordert wird. Also unter welchen wissenschaftlichen Kriterien sie mitten ins Herz treffen kann. Der Anspruch ist es in der Tat, wissenschaftliche Erkenntnisse der Wahrnehmungsorganisation mit den Anforderungen an den Künstler zu verknüpfen: Unter welchen Bedingungen ist ein Bild einfach nur chaotisch und uninspiriert, wann ist es in der Lage, eine besondere, krisenhafte Bedeutung sinnlich-wirkungsvoll freizusetzen!? Was bedeutet vor allem Musikalität in der bildenden Kunst? Sicherlich alles das, was wir auf musikalischem Gebiet bereits kennen: Rhythmusgefühl, die Fähigkeit, Spannungen aufzubauen, die Wahrnehmung zu führen, Stimmen auszubilden, die miteinander kommunizieren und sinnliche Bedeutung vermitteln. Das Spannende ist nun: Wie entstehen Rhythmus und Metrik in der bildenden Kunst, wie lassen sich die Tongeschlechter Dur und Moll in die bildende Kunst übersetzen, unter welchen Voraussetzungen formieren sich Elemente zu einer Stimme, die etwas Besonderes auszusagen vermag, die also nicht einfach irgendwas dahinnuschelt (wie wir es leider noch allzu häufig erleben müssen), wie lassen sich Haupt- und Nebenstimmen so organisieren, dass sie sich nicht gegenseitig schwächen, sondern vielmehr sich zu einem übergeordneten klangvollen Gesamtorgan ausdifferenzieren!? Was bedeuten für die bildnerische Gestaltung die musikalischen Begriffe Homophonie und Polyphonie, Kontrapunkt, die Kunst der Fuge!?
Es ist die Leistung meines Vaters Wolfgang Becker und seiner Meisterschüler, ein einfaches und übersichtliches Vokabular der musikalischen Bildorganisation verfasst zu haben, das in Gestalt der sogenannten Tonalitätslehre zur eigentlichen Basis des Kunststudiums der Wiesbadener Freien Kunstschule wurde. Jeder beginnt bei uns erst einmal mit einer Linie und einfachen Elementen, aber er merkt schnell, dass schon eine einzige Linie, ein Element, an der richtigen Stelle platziert und mit einer besonderen Anmutsqualität ausgestattet, etwas Krisenhaftes, also Unbekanntes, letztlich Ästhetisches auszulösen vermögen. Das Banale und Unerkannte wird auf einmal musikalisch aufbereitet und veredelt, es wird zu einer Stimme.
Die bildnerisch-musikalische Sensibilisierung verpflichtet den Kunststudenten, genau „hinzuhören“, so kann es bereits bei einer minimalen Veränderung im Verhältnis von Elementen zu erheblichen Klangveränderungen oder gar zu einem erheblichen Stimmungswechsel kommen. Pausen sind wie in der Musik ebenfalls wichtige Gestaltungsbestandteile. Nicht nur die Töne selbst, sondern die Zwischenräume zwischen ihnen bringen sinnliche Bedeutung zum Ausdruck. In der Regel werden in der Gestaltung die Zwischenräume aber sehr stiefmütterlich behandelt. Die Konzentration bleibt meist nur auf dem Objekt, wie im Alltag auch. Und dann kann das Bild nur noch eine Wahrnehmungsform wiedergeben, die es sowieso schon gibt – Langeweile macht sich breit.
Das Wissen um das musikalische Vokabular erleichtert und erschwert das bildnerische Arbeiten zugleich. Eine Erleichterung besteht darin, dass man nicht mehr ahnungslos und unwissend im Nebulösen herumstochern muss, um vielleicht nach Jahren oder Jahrzehnten auf einen angegilbten Zweig zu kommen, vielmehr liegt eine handwerkliche Grundlage zur Verfügung, die eine entscheidende Orientierung bietet. Eine Erschwerung dagegen besteht zugleich darin, dass nun überhaupt erst das Handwerkszeug beherrscht, internalisiert werden muss, um es kreativ nutzen zu können. Das erfordert ein gehöriges Maß an Disziplin und vor allem Ausdauer, denn es reicht ja nicht aus, das Handwerk einfach nur zu kennen, sondern es zu können. Und erst, wenn man es kann, kann man mit ihm spielen. Erst dann wird ein spontanes bildnerisch-musikalisches Denken und Handeln möglich.
Seltsam bis heute, dass die Einsicht in die Notwendigkeit des Übens und Trainierens immer nur für die Musik galt. Ich sehe allerdings keinen grundsätzlichen Unterschied darin, ob jemand mit dem Ellenbogen über die Tasten des Klaviers ratscht oder jemand blind Farben auf der Leinwand verschmiert. Beides wird landläufig als spontan bezeichnet. In Wirklichkeit jedoch hat Spontaneität andere Wurzeln: Sie ist nicht Ausdruck blinden Aktionismus, sondern einer kontrollierten Nichtkontrolliertheit, und das ist natürlich etwas ganz Anderes. Hier hat Kreativität ihren Nährboden, sicherlich nicht in dem bloßen Gefühl des Spontanen und Kreativen.
Um krisenhafte und klangvolle Sensibilität vermitteln zu können, muss das Handwerkszeug parat liegen. Dieses ist selbst für ein Genie ohne Training und intensiver Beschäftigung nicht zu haben.
Das Motto meines Vaters lautete, wenn es darum ging, wie viel an dieser oder jener Kompositionsstruktur noch gearbeitet werden solle: Immer schön eine Null dranhängen. Natürlich hat diese spezielle Einstellung auch traurige Wurzeln: Mein Vater wurde als Kind regelrecht ans Klavier geprügelt, nachdem ihm von seinem Musiklehrer „wenig Gehör“ bescheinigt wurde, jahrelang hat er sich gequält, bis er für sich auf den Trichter kam, dass es Spaß macht, Musikalität, die er vorher wirklich nicht hatte, wurde in ihm geweckt, dann hat er sogar selbst Musikunterricht gegeben und schließlich stand er vor der Entscheidung zwischen einem Kunst- und Musikstudium, und er entschied sich letztlich für die Kunst, wobei er bis zuletzt immer auch der Musik äußerst verbunden blieb.
Die Pauker-Mentalität, unterlegt mit Berliner Schnauze, hat in der Tat bei Einigen etwas gebracht, sonst wären deren schlafenden künstlerischen Geister wahrscheinlich niemals erweckt worden. Mein Vater hätte eine fertige Arbeit mit dem Hintern nicht angeschaut, wenn ihr nicht ein riesiger Stapel an Vorarbeiten und Alternativen beigelegt wäre. Viele sind ihm für diese Radikalkur bis heute sehr dankbar. Aber auch ohne Pauker-Syndrom appellieren wir bis heute an die Einsicht in die nötige gesteigerte Arbeitsintensität. Eine Null dranzuhängen ist für uns heute auch immer noch eine sinnvolle Empfehlung, denn wie in der Musik ist es auch in der bildenden Kunst unverzichtbar, in Übung zu bleiben, aber vor allem auch Alternativen zum bereits Erarbeiteten zu schaffen.
Die Musik kann in dieser Hinsicht eine wichtige Orientierung bieten, denn hier hört auch ein Laie, wenn ein Ton einfach nur unpassend aus dem Rahmen fällt. Unsere Aufgabe sehen wir also u.a. darin, die Sensibilität jedes Einzelnen so weit zu steigern, dass nunmehr Bilder vergleichbar gehört und endlich anders eingeschätzt werden können. Das heutzutage flächendeckende Toleranzgebaren, das sich mit dem Geniekult auf eine merkwürdige Weise mischt, hat gerade auf dem Gebiet der bildenden Kunst fatale Folgen nach sich gezogen. So bleiben Kunststudenten an den meisten Kunsthochschulen sich selbst überlassen – die vielbeschworene Freiheit fällt auf ihr Gegenteil, klaffende Unfreiheit zurück.
Mit großer Anerkennung haben wir die Selbstanklage des Malerfürsten Markus Lüpertz zur Kenntnis genommen, der nach seiner knapp vierzigjährigen Laufbahn als Hochschullehrer und Rektor der Kunsthochschule in Karlsruhe und Düsseldorf zugeben musste, dass die an den Akademien und Hochschulen so vielbeschworene Freiheit und Regellosigkeit fatale Auswirkungen nach sich gezogen hat.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Die wfk wurde vor genau 40 Jahren 1972 von meinem Vater Wolfgang Becker ins Leben gerufen, um der damaligen in seinen Augen bereits reformbedürftigen Kunstszene ein niveauvolles Gegengewicht zu bieten – und das, wie er einmal selbst sagte Zitat: „mit Hausfrauen“. Ich entschuldige mich natürlich in seinem Namen für diese plumpe Formulierung, aber ich möchte seinen Berliner Humor denen, die ihn nicht kannten, nicht vorenthalten. Denn was er meinte ist klar: Mit einem anspruchsvollen Studienplan lassen sich interessierte Menschen mit beruflichem oder familiärem Hintergrund und daher chronischem Zeitmangel recht passabel ausbilden. Bedenken Sie, dass die Arbeiten, die Sie hier in dieser Ausstellung sehen, überwiegend von Menschen stammen, die einem ehrenwerten Beruf nachgehen oder stark familiär eingespannt sind, die jede freie Minute, die ihnen nur noch zur Verfügung bleibt, der Kunst widmen. An dieser Stelle möchte ich mich daher bei allen Menschen bedanken, die diese Ausstellungen durch ihre Werke möglich gemacht haben, die mit viel Engagement und Leidenschaft an unseren musikalischen Themen gearbeitet haben.
Zum Schluss ein Hinweis: Es gibt einen limitierten Katalog zu unseren beiden Ausstellungen. In ihm werden die meisten Werke dokumentiert. Zudem enthält er exemplarische Farbklanganalysen, durch die einige Werke dieser Ausstellung unter musikalischen Gesichtspunkten analysiert werden. Kommen Sie bei Interesse diesbezgl. bitte auf mich zu! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Michael Becker, Schulleitung